Liebe Gemeinde!
Hanna singt. Ihr Lied findet sich im ersten Samuelbuch, Kapitel 2. Wir haben es vorhin als Lesung gehört. Es ist Bibelwort für die Predigt. Sie finden es abgedruckt in Ihrem Programm.
Hanna singt ihr Lied in einer ganz besonderen Situation:
Sie ist mit Elkana verheiratet. Er hat noch eine zweite Frau, wie damals üblich – etwa 1000 Jahre vor Christi Geburt. Peninna bekommt Kinder, Hannah nicht – und das in einer Zeit, in der Kindersegen die Altersversorgung darstellte. Peninna verspottet und quält Hanna wegen ihrer Unfruchtbarkeit. Elkana liebt Hanna sehr. Das macht Peninna nur noch giftiger.
Einmal im Jahr geht die Familie zum Tempel in Silo, um ein Tier als Dank für Gott zu opfern. Dazu gehören Gesänge und Gebete und ein Festessen. Wie jedes Jahr dort verhöhnt Peninna Hanna, sodass Hanna vor Weinen das Essen im Hals stecken bleibt. Sie geht weg. An den Stufen des Tempels weint sie sich aus, klagt Gott lange all ihr Leid. Dann verspricht sie Gott leise flüsternd:
Wenn Du mir einen Sohn schenkst, dann gehört er Dir und soll Dir hier dienen.
Der Hohepriester Eli beobachtet sie, wie lange sie da kniet, ihren Körper wiegt, ihre Lippen bewegt und doch nichts zu hören ist. Eli hält sie für sturzbetrunken und schnauzt sie an. Aber sie richtet sich auf und sagt nüchtern und klar:
„ich habe Gott mein Herz ausgeschüttet und eine Bitte an ihn gerichtet“. Eli glaubt ihr und antwortet: „Deine Bitte wird erhört“.
Ein Jahr später hat Hanna einen Sohn, den sie Samuel nennt. Drei Jahre lang geht sie nicht zum Tempel. Dann bringt sie Samuel hin und sagt zu Eli: „Hier ist mein Sohn, um den ich Gott bat. Er gehört Gott.“ Sie ist voll Dank und singt dieses Lied.
Samuel wird ein großer Richter und Prophet in Israel werden. Er wird später den kleinen Hirtenjungen David zum König salben, nach Saul der erste große König Israels.
Die Geschichten von Samuel und von David sind in zwei biblischen Büchern, dem ersten und zweiten Buch Samuel aufgeschrieben. Mit Hannas Danklied beginnt das erste Buch Samuel. Das zweite Buch schließt in Kapitel 22 ebenfalls mit einem Danklied. David singt es.
Die beiden Lieder rahmen also die vielen Geschichten in beiden Büchern. Sie sind für die Lesenden wie eine Brille, um alle Geschichten in beiden Büchern zu verstehen.
Wenn wir uns nun Hannas Lied anschauen, dann wird klar, es ist gar nicht Hannas Lied. Sie singt ein ihr schon bekanntes Lied und macht es sich zu eigen. Es ist ein Psalmlied, wie es viele gibt im biblischen Buch der Psalmen gibt. Dort sind ja nur ein Bruchteil der Psalmen aufgenommen, die in Israel gesungen wurden.
Inhaltlich nimmt der Psalm, den Hanna singt, wenig Bezug auf ihre Situation. Einzig das Stichwort Kinderlosigkeit in Vers 5 knüpft konkret an ihre Geschichte an. Und trotzdem singt Hanna dieses Lied, weil sie sich in ihm wiederfindet und Gottes Handeln in ihrem Leben darin wiederfindet. Sie stimmt ein in die Botschaft: Gott kann alle Verhältnisse umkehren: schwach – stark, hungrig – satt, unfruchtbar – kinderreich, tot – lebendig, arm – reich, bedürftig – geehrt.
Und warum macht Gott das immer wieder? Allein darum, weil er Schwache, Hungrige, Arme, Bedürftige, Sterbende im Blick hat.
Er ist auf der Seite derer, die ihn brauchen und sich nach ihm strecken wie die Hanna. Sie singt:
„Er hebt den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche, dass er ihn setze unter die Fürsten und den Thron der Ehre erben lasse.“
Ich war vor wenigen Tagen in der Lebenshilfe in Kronach, besuchte die Förderschule und die Tagesstätte. Ich machte einen Vorbesuch, weil der Erzbischof und ich dort Mitte April die Woche für das Leben in einem ökumenischen Gottesdienst eröffnen werden.
Die Woche für das Leben nimmt jedes Jahr andere Menschengruppen in den Blick, die besondere Sensibilität brauchen – in den Worten von Hannas Psalm Dürftige, Bedürftige: noch ungeborene Kinder oder Sterbende. Dieses Jahr geht es um Menschen mit Handicap.
Bei meinem Besuch lernte ich die Kids vom Ring kennen. 30-40 Kinder und Jugendliche – alle mit geistiger oder mehrfacher Beeinträchtigung - singen und schlagen Tamburin, Bongos und andere Instrumente. Sie singen beeindruckend gut und sie geben dabei ihrem Glauben Ausdruck. Seit meinem Besuch habe ich einen Ohrwurm: „Post für Gott.“
Wie vertreibt man einen Ohrwurm? Nur durch einen anderen. Im Gottesdienst werden die Kids einen neuen setzen. Da werden sie mit der Gemeinde singen:
„Vergiss es nie, dass du lebst, war keine eigene Idee und dass du atmest, kein Entschluss von dir.
Vergiss es nie, dass du lebst, war eines anderen Idee und dass du atmest, sein Geschenk an dich.
Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal, ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur. Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu. Du bist du, das ist der Clou. Ja, du bist du.“
Dieses Lied bekennt den Glauben an Gott und setzt wie die beiden Lieder in den Samuelbüchern den Verstehensrahmen für die eigene Lebensgeschichten. Die Eltern singen mit und singen ihren Kindern zu. „Du bist ein genialer Gedanke Gottes!“
Solche Lieder lassen große Glaubenswahrheiten in die Seele einsickern und verwandeln sie.
Dass Menschen mit großer Beeinträchtigung ihre eigene Lebensgeschichte so interpretieren – und die Eltern und die Gemeinde ist nicht selbstverständlich.
Im August letzten Jahres erklärte der Vorsitzende der AfD im Thüringer Landtag, man müsse das Bildungssystem von Ideologieprojekten, wie der Inklusion befreien. Ich erlebe dagegen umgekehrt gelungene Inklusion – gemeinsames Leben, Singen, Glauben von Menschen mit und ohne Handicap - als große Befreiung gerade auch für Menschen, die kein großes Handicap haben.
Dort bei der Lebenshilfe wird der Glaube an Gottes Treue, mit der Gott Bedürftigen hilft, so elementar gelebt, dass auch die Gesunden es zu glauben lernen. Dass wir ein genialer Gedanke Gottes sind, kein Kind des Zufalls, sondern von Gott gewollt, das beginnen manche – für sich selbst - zu glauben, weil sie es behinderten Menschen zusingen.
Auch die Osterlieder in diesem Gottesdienst – angefangen setzen einen Rahmen zum Verstehen unserer Lebensgeschichte.
„Er hat den Tod bezwungen“ haben wir gesungen – auch unseren Tod. Und der Chor sang: „Christ lag in Todes Banden, für unsere Sünde gegeben, der ist wieder erstanden und hat uns bracht das Leben. Halleluja“. Am Ende des Gottesdienstes werden wir einander zusingen: „Wir wollen alle fröhlich sein in dieser österlichen Zeit, denn unser Heil hat Gott bereit. Halleluja.“ Immer wieder an Ostern dieses „Halleluja“: Auf deutsch: „Lobt Gott!“ Denn Jesus lebt und mit ihm werden wir leben auch wenn wir sterben und vorher lernen wir von ihm liebevoll zu leben.
Luther wollte das Singen stärken. Er wollte an eine Praxis anknüpfen, wie Hanna sie pflegte. Vor 500 Jahren, zum Jahreswechsel 23 auf 24 schrieb er seinem Freund Spalatin:
„Ich habe den Plan, deutsche Psalmen für das Volk zu schaffen, das heißt, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibt.“
Besonders das Wort „bleibt“ gefällt mir. Denn gesungenes Wort bleibt viel länger in der Seele als gesprochenes Wort.
Luther setzte Ohrwürmer, denken wir an die protestantische Marseillaise, „Eine feste Burg ist unser Gott“. Oder eben „Christ ist erstanden“, das seine Kraft besonders entfaltet, wenn es an Gräbern gesungen wird. Auch da setzt es ein neues Verstehen von Tod und Leben.
In diesem Jahr ist nicht nur das 500ste Jubiläum von „Christ lag in Todesbanden“, sondern des evangelischen Gesangbuchs überhaupt.
Im Januar 1524 erschien das allererste Büchlein mit acht Liedern. Vor Ostern dann in Erfurt das „Enchiridion“, auf Deutsch „Handbüchlein“, mit 26 Liedern, in dem auch „Christ lag in Todesbanden“ enthalten war und dann noch im selben Jahr in Wittenberg das „Geistliche Gesangbüchlein“ mit schon 43 Liedern.
Die Reformation war eine Singbewegung und man erkannte, ob eine Gemeinde evangelisch geworden war daran, dass sie sang.
Der Lemgoer Bürgermeister war gegen die Reformation und wollte wissen, wie es um die Kirchen in seiner Stadt steht. Er sandte seine Ratsdiener aus. Die kamen zurück und meldeten: „Herr Bürgermeister, sie singen alle“. Darauf er: „Ei es ist alles verloren“.
Umgekehrt ist es, bei Menschen, die den Glauben an Gott besingen, ist alles gewonnen. Hanna singt und deutet ihr Leben so, dass Gott handelt, auch an ihr handelt, ihr neues Leben geschenkt hat.
Inzwischen singen evangelische und katholische Christen in ökumenischer Eintracht. Michael Dorn hat Osterlieder aus den verschiedensten Jahrhunderten ausgesucht. Auf der Suche nach einem aus unserem Jahrhundert fanden wir eines, das von einer katholischen Benediktinerin stammt mit einer Melodie aus dem Jahr 2008. Sein Titel könnte Ohrwurm werden: „Größer als alle Bedrängnis, ist Deine Treue Herr.“
Unsere Zeit ist voll Bedrängnis: Der Krieg in der Ukraine kommt uns bedrängend nah, die Klimakrise auch - und persönliche Schwierigkeiten sind vielleicht auch da.
Von Gott zu singen schafft keine Gegenwirklichkeit, aber setzt uns die Brille auf, die uns erkennen lässt: Gott sieht die Bedrängten, wie er Hanna sah. Gott bleibt uns treu. Immer wieder mischt er sich ein und schenkt unerwartet Leben für Bedrängte und auch für uns. Halleluja. Amen.